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IM GESPRÄCH


Gastbeiträge

Meldungen - Nachdenkliches
aus

Theologie - Ökumene - Praxis



Die hier wiedergegebenen Texte
sind die Meinung des entsprechenden Autors
und werden von ihm persönlich verantwortet!

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->   Jeder Mensch ein Priester ?!

->   Worauf es ankommt  .. Nur für Priester?
Herbert Haag

->   Theologe: „Noch fünf Jahre, dann kollabiert das System Kirche“

Birgit Dierks  -  Valentin Dessoy


->   Auf dem Weg zur nächsten Kirche

Valentin Dessoy

->   Jesus wollte keine Priester!
Martin Ebner 


->   Abschied von der Priester-Kirche
Beamtete Gottes-Vermittler hat Jesus nicht gewollt
Eugen Drewermann  -  Jacques Gaillot


s.u. ! :

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Jeder Mensch ein Priester ?!


"Nach reformatorischer Auffassung stellt die Taufe nicht nur die erste Stufe der Kirchen-gemeinschaft dar, sondern gewährt die volle Teilhabe am Leib Christi
und bildet so einen unüberbiet­baren, nicht steigerungsfähigen Gnadenstand.
In der Gemeinde der Getauften kann es kein Glied mehr geben,
das den anderen gegenüber vor Gott eine besondere Stellung einnähme.
Eine Priesterkaste mit religiösen Vorrechten hat in ihr keinen Raum."
(Niedermeyer)  
Daraus ergibt sich für die evangelische Theologie, dass selbst die Gültigkeit und Wirksamkeit des Zentralsakramentes Abendmahl "nicht vom ordinierten Pfarramt abhängt". (VELKD 11)   
Der theologische Begriff des Priestertums aller Getauften hebt die Differenz zwischen Klerus und Laien, geistlichem und weltlichem Stand auf.
Insofern gelten hier alle Getauften als gleichrangige Glieder: "Was ausz der Tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon Priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey." (Luther)

"Es steht jedenfalls fest, dass bei den älteren (Kirchen-) Vätern irgendwelche Spuren
von einem >character indelebilis< oder einem >Sakrament< der Priesterweihe
nicht nachzuweisen sind, und wo man Derartiges zu finden meint,
handelt es sich um Miss­verständ­nisse. ...
Der Nachweis, wie ein Sakrament, von dem vier­hundert Jahre lang in der Kirche
nichts wahrzunehmen ist, von Christus ein­gesetzt, ja ein >Grundamt der Kirche< sein kann, muss den Dogmatikern anheim gegeben werden. Für den Exegeten ist die Sache längst klar."   (Campenhausen)

Hans von Campenhausen, »Die Anfänge des Priesterbegriffs in der alten Kirche«.
Siehe Infobuch "Sakramente heute - Der freie christliche Impuls Rudolf Steiners heute", 
Forum Kultus



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Worauf es ankommt
Nur für "Priester" ?


Die Krise des - römisch-katholischen - Priesterstandes ist offenkundig.
Was immer auch die Amtskirche bisher unternommen hat, um ihr zu begegnen,
ist wirkungslos geblieben.
Priestermangel, Gemeinden ohne Eucharistie, Zölibat, Frauenordination
bezeichnen die Probleme,
die zwar nicht allein, aber doch weitgehend die gegenwärtige Not
der katholischen Kirche bestimmen.
Immer häufiger werden Laien zu Gemeindeleitern eingesetzt,
die aber - weil sie nicht "geweiht" sind -
mit ihrer Gemeinde nicht Eucharistie feiern können,
wozu sie doch eigentlich verpflichtet wären.
Dies war in der frühen Kirche kein Problem.
Da lag die Eucharistiefeier allein in der Hand der Gemeinde.
Die ihr im Einvernehmen mit der Gemeinde vorstanden, waren keine "Geweihten".
Es waren ganz normale Gemeindemitglieder.
Wir würden sie heute Laien nennen, Männer, aber auch Frauen,
in der Regel verheiratete, aber auch unverheiratete.
Entscheidend war der Auftrag der Gemeinde.
Warum sollte, was damals möglich war, nicht auch heute möglich sein?
Wenn Jesus, wie behauptet wird, das Priestertum des Neuen Bundes eingesetzt hat:
Warum ist davon die ersten vierhundert Jahre in der Kirche nichts wahrzunehmen?
Überdies: Alle sieben Sakramente, die die katholische Kirche kennt,
sollen von Jesus gestiftet sein.
Bei mehr als einem Sakrament ist dieser Nachweis schwierig.
Völlig unmöglich ist er beim Sakrament der Priesterweihe.
Vielmehr hat Jesus durch Wort und Tat gezeigt, dass er keine Priester wollte.
Weder war er selber Priester, noch war es einer von den 'Zwölf' und auch nicht Paulus.
Ebenso wenig lässt sich das Amt der Bischöfe auf Jesus zurückführen.
Die Annahme, die Apostel hätten, um für die Fortdauer ihres Amtes Vorsorge zu treffen,
Bischöfe zu ihren Nachfolgern eingesetzt, ist unhaltbar.
Das Bischofsamt ist, wie alle anderen kirchlichen Ämter, eine Schöpfung der Kirche,
es hat sich historisch entwickelt.
Und damit stehen diese beiden Ämter, Bischof und Priester,
jederzeit zur freien Disposition der Kirche.
Sie können beibehalten, verändert oder abgeschafft werden.
Die Krise der Kirche wird so lange andauern, wie sich diese nicht entschließt,
sich eine neue Verfassung zu geben,
eine Verfassung, in der es für zwei Stände - Priester und Laien,
Geweihte und Nichtgeweihte - keinen Platz mehr gibt,
sondern ein kirchlicher Auftrag ausreicht, um eine Gemeinde zu leiten
und mit ihr Eucharistie zu halten.
Und ein solcher Auftrag kann Männern und Frauen, Verheirateten und Unverheirateten
zuteil werden.
Damit wäre zugleich in einem Zug das Problem der Frauenordination
wie die Zölibatsfrage gelöst.
Die Forderung, es dürfe in der Kirche nicht zwei Klassen geben,
wird vor allem entgegengehalten,
es habe immer wieder organisatorische Entwicklungen gegeben,
die sich nur indirekt vom Neuen Testament her begründen ließen.
Als Beispiel wird etwa die Kindertaufe genannt, die sich nicht ausdrücklich
auf das Neue Testament berufen kann, ihm aber auch nicht widerspricht.
Indes ist der Verweis auf Entwicklungen nur so lange haltbar,
wie diese mit den Grundaussagen des Evangeliums
in Einklang stehen. Widersprechen sie diesem in entscheidenden Punkten,
sind sie illegitim, unerträglich und schädlich.
Dies gilt mit Sicherheit von der Priesterkirche.
Ein Befragung der biblischen und frühchristlichen Zeugen
zeigt eindeutig und überzeugend,
dass Hierarchie und Priestertum sich in der Kirche an der Schrift vorbei entwickelten
und nachträglich als ihr zugehörig dogmatisch gerechtfertigt wurden.
Alle Zeichen deuten darauf hin, dass für die Kirche die Stunde geschlagen hat,
sich auf ihr eigentliches Wesen zurückzubesinnen. (S. 7-8)



Herbert Haag
«Worauf es ankommt - Wollte Jesus eine Zwei-Stände-Kirche?»
Verlag Herder, Freiburg, 1997, ISBN 3-451-26049-2


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Theologe: 
„Noch fünf Jahre, 
dann kollabiert das System Kirche“

 

12. Dezember 2022

Die Theologin Birgit Dierks und der Theologe Valentin Dessoy sehen den Kipppunkt beim Niedergang der Kirchen schon längst überschritten. Mit der verbliebenen Kraft müsse Kirche jetzt den Anschluss an die nächste Generation schaffen.

 

Hallo Frau Dierks und Herr Dessoy, welche Probleme sehen Sie, wenn Sie sich den Zustand der Kirche anschauen? 


Valentin Dessoy: Größtes Problem ist der Rückgang der Mitglieder. Die Kirche verliert die Menschen, die Lust haben, sich einzubringen. Dieser Verlust ist so massiv, dass die Kirche bis 2030 ausgeblutet ist. Wir gehören zu einer Generation, die mit Kirche aufgewachsen ist. Die das sehr positiv erlebt hat. Kirche ist aktuell zu 98 Prozent für diese Generation da. Aber die stirbt langsam aus. 

 

Birgit Dierks: Man könnte es als Muskelschwund bezeichnen. Die Muskeln der Kirche sind die Menschen, die etwas bewirken. Die sind aber inzwischen oft ausgepowert, weil immer größere Kirchenbezirke entstehen. Ein bisschen Burnout schwingt also auch mit.  

 

Dessoy: Kritisch sehe ich den dauerhaften Invest in ein Geschäftsmodell, das keine Zukunft hat. Kirche verändert sich viel, viel schneller, als dass die Bereitschaft wächst, in neue Formen zu investieren. 

 

Welche Reaktionen auf diesen Niedergang nehmen Sie in den Kirchen wahr? 

 

Dessoy: 60 Prozent der Führungskräfte sagen anonym: „Die aktuelle Form von Kirche hat keine Zukunft.“ Sobald sie auf der Bühne stehen, heißt es: „Bitte macht die nächsten fünf, zehn Jahre noch so weiter. Solange es geht.“ Eindeutige Schizophrenie.  

 

Dierks: Auf dem Kongress [Dierks und Dessoy sind Mitorganisatoren des Strategiekongresses „Auflösung – Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?“; Anm. d. Red.] spüren wir existenzielle Angst und Kummer, dass das, was man aufgebaut hat, das Lebenswerk, jetzt bedroht ist.  

 

Dessoy: Wir beschäftigen uns auch mit dem Loslassen. Da gibt es Gegenreaktionen, das wollen manche nicht. Da kommt dann die Frage: „Was ist denn jetzt die Strategie?“ Es gibt keine mehr. Ich muss loslassen und schauen, was Neues entsteht. Es geht nicht mehr, das Neue aus dem Alten herzuleiten. Es ist nicht mehr steuerbar. Das löst Irritationen aus. 

 

Dierks: Wir hatten auf dem Kongress einen Abschnitt zum Thema Gotteserfahrungen. Das wurde einigen zu persönlich. Da gibt es Widerstände, die professionelle und die persönliche Ebene zusammenzubringen. 

 

Ist das ein Ziel des Kongresses? 

 

 

Dessoy: Wir sind davon überzeugt, dass die Glaubenserfahrung das Entscheidende im System Kirche ist. Keine Privatangelegenheit. Für viele ist das ausgegliedert. Für uns stellt es den eigentlichen Kern dar. Nur wenn wir den haben, gelingt es, den Rest, die alten Formen von Kirche loszulassen. 

 

Titel des Kongresses ist „Auflösung“. Was hat es damit auf sich? 

 

Dessoy: In der katholischen Kirche und in großen Teilen der evangelischen Kirche wird seit Jahren gesagt: „Die Volkskirche löst sich auf.“ Wir rufen den Führungskräften zu: „Nehmt doch mal ernst, was ihr die ganze Zeit sagt!“ Wenn wir das nämlich ernst nehmen, dann stellt sich die Frage: Können wir das System überhaupt noch reformieren oder müssen wir jetzt systematisch unterbrechen oder können wir es ganz sein lassen? 

 

Dierks: In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir erlebt, was Unterbrechung bedeuten und auslösen kann. Wegen der Corona-Pandemie gab es zum Beispiel keine Ostergottesdienste. Was da an Innovationen, aber auch an depressiven Reaktionen kam, war interessant.  

Unsere These ist es, dass sich nur durch Unterbrechen etwas ändern kann. Schleichendes Reformieren machen wir seit 40 Jahren in den Kirchen. Es hat sich bisschen was im System geändert, aber nicht am System. 

 

Dessoy: Kleines Beispiel. Wegen Corona hatten große katholische Frauenorden keine Eucharistiefeiern mit Priester mehr. Die sagen jetzt offiziell: „Ist doch ohne viel schöner. Wir brauchen das nicht mehr.“ Da wird es für die katholische Kirche richtig schwierig.  

 

Wir haben den Kipppunkt überschritten.

Birgit Dierks

 

Halten Sie das System Kirche für reformierbar oder braucht es etwas radikal Neues? 

 

Dessoy: Für mich ist das klar. Ich gebe der katholischen Kirche in ihrer jetzigen Form noch fünf Jahre. Die Austrittszahlen liegen für dieses Jahr aktuell bei einer Million. Die sind in den letzten Jahren massiv angestiegen. Pro Jahr fällt eine Diözese von der Größe Limburgs weg. Noch fünf, maximal zehn Jahre, dann kollabiert dieses System. Das sagen auch Führungskräfte. Wir müssen jetzt mit den Ressourcen, die noch da sind, den Anschluss an die nächste Generation schaffen. 

 

Dierks: Wir haben den Kipppunkt überschritten. Ich gehöre zur Generation der Baby-Boomer. In fünf, sechs Jahren gehe ich in Ruhestand. Ich bin Teil eines Berges, der dann einfach wegfällt und die Kirche trotzdem noch finanziell belastet. Deswegen gehe ich davon aus, dass spätestens dann das System zusammenbricht. Selbst wenn noch Geld da ist, wird es keine Menschen geben, die die freien Stellen ausfüllen können. Das heißt, wir müssen uns massiv mit allgemeinem Priestertum und Umformung beschäftigen.  

Man kann bei einem Flughafen die Landebahn ziemlich lange kürzen, wenn man keine Gelder mehr hat, um sie zu asphaltieren. Aber irgendwann kann man keine Flugzeuge mehr einsetzen, weil die Landebahn zu kurz ist. Dann ist es ein Hubschrauber-Landeplatz und ich muss schauen, dass ich Hubschrauber entwickle. Das ist für mich der Knackpunkt bei der Reform der Kirche. Es geht nicht darum, die Flugzeuge besser zu machen, sondern neue Formen des Fliegens zu entwickeln. 

 

Noch kann man sich was in die Tasche lügen.

Valentin Dessoy

 

Sie haben einen Kipppunkt erwähnt. Wann war der überschritten? 

 

Dessoy: Der Kipppunkt ist ein Punkt, ab dem ein Prozess nicht mehr umkehrbar ist. Das ist schon längst gelaufen. Dieser Punkt wurde überschritten, als klar war, dass die klassische Sozialisation nicht mehr zur Reproduktion führt, sondern im Gegenteil zu immer stärkerer Distanzierung und Indifferenz. Das steigt dynamisch an. Siehe Kirchenaustritte. Irgendwann wird es so krass, dass das System erkennbar zusammenbricht. Noch kann man sich was in die Tasche lügen. 

 

Was passiert, wenn das System Kirche komplett zusammenbricht? Welche Szenarien gibt es da? 

 

Dierks: Wir haben festgestellt, dass es noch viele Ressourcen gibt. Eine Hülle wird also vielleicht noch bestehen bleiben. Ich glaube, dass viele kleine Gemeinschaften außerhalb von Kirche entstehen werden. Es wird wesentlich dezentraler werden. Da werden viele kleine Pilze aus dem Boden schießen.  

Das passiert schon längst. Auch jenseits von den Innovationen, die wir steuern. Leute, die sowas auf dem Herzen haben, machen das einfach. Die finanzieren sich dann selbst und suchen sich ihre Formen jenseits von Kirche. 

 

Dessoy: Mein Sohn hat in Frankfurt an der Oder studiert. Dort gibt es eine große kulturwissenschaftliche Fakultät. Die machen das, was wir damals in der Theologie gemacht haben. Sie beschäftigen sich mit Spiritualität, philosophischen und theologischen Texten, Ethik – aber alles nicht unter dem Label Kirche.  

Die katholische Kirche wird zerfallen wie eine Windschutzscheibe. 1.000 Scherben. Jeder macht seins. Der eine klebt noch das Label Kirche darauf, die andere nicht. Das ist relativ sicher. Das sieht man jetzt schon. Zum Beispiel Maria 2.0 [eine Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche, die für Frauenordination eintritt; Anm. d. Red.]


Ihr Wunsch wäre es jetzt, diese neuen Formen unter dem Label Kirche zu vereinen?
Oder wie kann ich mir die nächste, die neue Kirche vorstellen?
 

 

Dessoy: Die Gesellschaft verändert sich stark, ähnlich wie im Mittelalter. Wir sind mittendrin im Umbruch. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist 300 Jahre alt. Die sozialen Medien verändern sie extrem. Dadurch passen unsere Prozesse, Reaktionen und Kontrollmechanismen irgendwann nicht mehr. Die nächste Kirche muss das Neue integrieren. Das geht nur, wenn sie netzwerkartig, sehr dezentral ist. Fokussiert wirklich auf den Kern dessen, was Erfahrung ist. Keine Wissenstransportation mehr. Keine Moralinstanz. 

 

Dierks: Keine Wahrheiten. Postmoderne. 

 

Dessoy: Raum für Erfahrung und Sinnstiftung. Um das für die katholische Kirche noch mal deutlich zu machen: Der Synodale Weg wird aktuell sehr gehypt. Da geht es um die Themen Frauen, Gleichberechtigung, Sexualität und Klerikalismus [Machtverteilung zwischen Geistlichen und Laien; Anm. d. Red.].  

Aus einer Marketing-Perspektive wären das die Basismerkmale. Wenn Sie in ein Hotel gehen und es gibt kein Bett, dann gehen Sie da nie wieder hin. Was passiert, wenn Sie in ein Hotelzimmer kommen, und da steht ein Bett? Da sind sie nicht begeistert. Sie bemerken das gar nicht, weil es selbstverständlich ist.  

Die katholische Kirche arbeitet noch an diesen Basismerkmalen. Wenn ich das meinem Sohn erzähle, schüttelt der nur den Kopf. Wir haben aber als Kirche noch so viel Energie, dass wir diesen Auflösungsprozess des klassischen Kirchensystems nicht nur erleiden, sondern forcieren könnten. 

 

Dierks: Und wie können wir das forcieren? Es braucht Räume für Menschen, die eine Transformation leben wollen. Lassen Sie mich das am Beispiel der Entwicklung von einer Raupe zum Schmetterling erläutern.  

In einer Raupe bilden sich dabei zuerst vereinzelte Zellen, die vom System bekämpft werden. Später verklumpen die sich und dadurch entsteht dieser Transformationsprozess zum Schmetterling. Es braucht also einen Rahmen, wo sich Menschen, die Transformation schon in sich spüren, verbinden können.

 

Vielen Dank für das Gespräch! 

 

Die Fragen stellte Pascal Alius.

 

 


Die Theologin Birgit Dierks arbeitet als Referentin für missionale Gemeindeentwicklung bei der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi).Valentin Dessoy ist Psychologe, Theologe, Kirchenentwickler, Autor und Geschäftsführer von kairos. Coaching, Consulting, Training

Beide haben den Strategiekongress „Auflösung – Kirche reformieren, unterbrechen, aufhören?“ mitorganisiert. Die Kongressreihe „Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft“ existiert seit 2008. Träger des Strategiekongresses ist der Verein futur2 e.V., der die gleichnamige Online-Zeitschrift herausgibt.

Veranstalter des Kongresses sind kairos – Coaching, Consulting, Training Mainz, der Strategiebereich 1, Ziele und Entwicklung im Bischöflichen Generalvikariat Trier, die Thomas-Morus-Akademie Bensberg und die Evangelische Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi) und die XIQIT GmbH. Der 7. Strategiekongress wird unterstützt von der zap:stiftung Bochum.

 

 

Quelle:

https://www.jesus.de/glauben-leben/theologe-noch-fuenf-jahre-dann-kollabiert-das-system-kirche/    Abruf:  30.7.2024

 


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Auf dem Weg zur nächsten Kirche

Valentin Dessoy

 

Wenn sich komplexe, dynamische Systeme verändern

 

Komplexe dynamische Systeme verändern sich sprunghaft. Das Neue kann nicht linear vom Bestehenden abgeleitet oder daraus entwickelt werden. Es entsteht in einem emergenten Prozess, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind. Solche Prozesse haben stets etwas Disruptives oder Chaotisches. Sie können allerdings gestaltet werden in dem Sinne, dass man ihnen einen Ort und einen Rahmen gibt, um die Grundlagen des Systems, den kommunikativen Bezug der Akteure i.S. Luhmanns, zu erhalten und dem Tradierten durch disruptive Innovation eine neue, kontextualisierte Gestalt zu geben. Die Tiefe und Dimension des notwendigen Gestaltwandels (und damit den Grad der erforderlichen Disruption) auszublenden kann leicht dazu führen, dass ein Kipppunkt erreicht wird, an dem das System in einen Zustand irreversibler Auflösung gerät, wie es die Kirche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Form der Kirchenspaltung erlebt hat.


 Wir stehen an der Schwelle zur “nächsten Kirche”.1 Tiefgreifende Umwälzungen deuten sich an. Was lässt sich aus systemischer Perspektive über den Prozess sagen und wie lässt sich das theologisch übersetzen?

 

 

Wovon wir ausgehen können

 

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch und mit ihr die Kirchen. Wenn sie als Ordnungsfigur überleben wollen, müssen sie in der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker) anschlussfähig sein und hierfür ihre internen und externen Prozesse neu formatieren. Die Herausforderung ist gewaltig, zumal Religion seit Jahrzehnten unter einem grassierenden Relevanzverlust leidet, der auf einer veränderten „Nachfragestruktur“ (Detlev Pollack; KMU 5) beruht. Das Bedürfnis nach Religion ist abhandengekommen. Man braucht die Kirchen nicht mehr, weil sämtliche Funktionen der Daseinsbewältigung, -vorsorge und -absicherung anderweitig und besser realisiert werden. Heilung und Befreiung finden andernorts statt, so dass der Kern der christlicher Botschaft, das Heilsversprechen in Jesus Christus, in unserer modernen Gesellschaft kaum noch damit verknüpft werden kann.

Für die katholische Kirche kommt hinzu, dass sie Entwicklungen nachholen muss, gegen die sie sich seit der Aufklärung mit aller Macht gewehrt hat: Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, differenzierter Umgang mit Sexualität etc. Ein Blick aus der Zufriedenheitsforschung zeigt, wie bedeutsam gerade diese Aspekte sind. Man würde sie dort als sog. Basismerkmal bezeichnen. Solche Merkmale sind in einer aufgeklärten Gesellschaft Selbstverständlichkeiten, die – ähnlich der Sauberkeit im Hotel – bei Nicht-Vorliegen zu starker Unzufriedenheit führt, bei Vorliegen jedoch keinerlei positiven Effekt auf die Zufriedenheit haben. Beim Synodale Weg gibt es zumindest in Teilen die Intention, hier aus der Defensive zu kommen. Aber selbst wenn es gelänge, würde die Kirche dadurch noch lange nicht attraktiv – eben nur weniger schlimm.

Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist.

Das Menetekel der Kirchenspaltung, das den Synodalen Weg begleitet, knüpft an die Erfahrung des letzten großen gesellschaftlichen Umbruchs an, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals entstand über einen längeren Zeitraum hinweg unsere modere Gesellschaft. Im Zuge der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen zerbrach die Einheit der Kirche. In der Folge wurde allerdings ihr institutioneller Charakter in Abgrenzung zu den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen immer weiter gestärkt. Die Kirchen sind seit dieser Zeit – ungeachtet zahlreicher operativer Anpassungsprozesse – als Institutionen in ihrem Kern auf möglichst hohe Stabilität und Funktionalität programmiert.

Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung). Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel stellt die Kirchen vor die Herausforderung, in kürzester Zeit zu lernen, sich dauerhaft in dynamischen und volatilen Kontexten zu bewegen. Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist (Kybernetik 2. Ordnung).

Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung).

Das Szenario einer Spaltung liegt da auf der Hand. Allerdings ist es diesmal mit einer „einfachen“ Spaltung sicher nicht getan. Sie wird heute absehbar die Form einer Zersplitterung haben, vergleichbar einer berstenden Windschutzscheibe. Daher sind die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg durchaus berechtigt. Man könnte auch sagen, das ist ein mögliches Szenario in diesem Prozess, womöglich sogar das Trendszenario. Aber ist dieser Prozess unausweichlich? Was kann Kirche von den Sozialwissenschaften lernen?

 

 

Wie Systeme lernen

 

Wir kennen es aus der Psychologie: Es gibt unterschiedliche Formen des Lernens und der Weiterentwicklung. Beim Lernen einfacher Dinge (z.B. Vokabeln) zählt allein die Häufigkeit, mit der man etwas wiederholt und sich einprägt: Je mehr, desto besser. Bei komplexeren Vorgängen, z.B. beim Gehen- oder Sprechen-Lernen, sieht das anders aus: Lernen geschieht am Modell, experimentell und sprunghaft. Lange bleibt es beim Versuch und plötzlich, mit einem Schlag, ist das Gelernte da, ein qualitativer Sprung.

Der Psychologe Jean Piaget nennt die beiden Lern- bzw. Entwicklungsparadigmen Assimilation bzw. Akkomodation. Bei der Assimilation werden neue Erfahrungen in bestehende kognitive Schemata integriert. Gelingt dies aufgrund von Fremdheit nicht (mehr), sind also stärker abweichende oder inkompatible Erfahrungen zu verarbeiten, muss das Schema verändert, die „kognitiv-emotionale Struktur“ (Luc Ciompi) neu konfiguriert werden.

Organisationen haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten.

Die beschriebenen Phänomene lassen sich auch in sozialen Systemen beobachten, gerade auch in Organisationen. Sie haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten. Solche Muster sind hochgradig sinnvoll: Das System „funktioniert“ und muss sich nicht ständig neu erfinden. Allerdings ändern sich laufend die Umweltanforderungen. Systeme versuchen dann zunächst und oftmals über eine lange Strecke, im Rahmen ihrer bisherigen Logik zu bleiben. Mehr desselben und erhöhte Anstrengungen innerhalb der bestehenden Muster und Routinen sind die Folge. Kommt Ressourcenmangel hinzu, führt dies i.S. der Kybernetik 1. Ordnung zu fortschreitender Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung. Gelingt die Anpassung an die Umweltanforderungen auf diese Weise nicht mehr, ist das „Betriebssystem“ bzw. „Geschäftsmodell“ betroffen. Das schließt die Basisprämissen der Organisation, ihre innere Logik, ihre DNA mit ein.

Die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft verläuft ähnlich, nur in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. So beschreibt Peter F. Drucker der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als Übergang in eine neue „Medienepoche“, die das Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte grundsätzlich veränderte: Aus der Ständegesellschaft wurde die moderne funktionale Gesellschaft, wie wir sie kennen. Entscheidend für diese Entwicklung war nach Drucker die revolutionären Erfindung des Buchdrucks, die sämtliche Steuerungs- und Kontrollsysteme des Mittelalters zu Fall brachte. Heute stehen wir aufgrund der revolutionären Entwicklung der Informationstechnologie in einem ähnlich tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der in keinem kirchlichen Reformprozess bislang eingepreist ist.

Wenn es chaotisch wird

Was passiert genau, wenn lineare Anpassungsprozesse nicht zum Erfolg führen, wenn der Austausch einzelner Komponenten nicht mehr hilft, sondern das Betriebssystem erneuert werden muss? Diese Frage reflektiert die Chaostheorie. Forschungsergebnisse zeigen, dass Übergänge dieser Art zunächst scheinbar chaotisch verlaufen. Die bestehende Ordnung zerfällt, Altes funktioniert nicht mehr und neue Routinen stehen noch nicht zur Verfügung. Das Ergebnis ist weder deduktiv ableitbar noch vorhersagbar. Es gibt keine Kontrolle. Weiter geht es allenfalls experimentell, ohne Garantie auf Erfolg.

Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.

Die Ergebnisse der Chaosforschung (Henri Poincaré, Benoît Mandelbrot, Mitchell Feigenbaum u.a.) zeigen zudem einen engen Zusammenhang zwischen der Komplexität der geforderten Anpassung und der Art des zugehörigen Lernprozesses. Innerhalb gewisser Toleranzgrenzen lernen Systeme stetig. Die innere Organisation bleibt erhalten (Clayton Christensen nennt das auch „inkrementelle Innovation“). Wenn allerdings die Umweltanforderungen stärker abweichen, muss es zu einer Anpassung der inneren Organisation kommen ( „disruptive Innovation“ nach Christensen).

Solche Übergänge sind „emergent“, sie sind nicht machbar, sondern ereignen sich. Für Beobachtende verlaufen sie zumeist sprunghaft. Zunächst wird das System instabil, womöglich über eine längere Zeit. Der damit einhergehende Kontrollverlust erzeugt Stress im System. Er löst bei allen Beteiligten Irritation und vielfach ambivalente Gefühle wie Ohnmacht, Wut oder Trauer aus. Im Verhalten kann die Verunsicherung Unterschiedliches bewirken. Typische Stressreaktionen sind: Man schaut weg, man verleugnet oder bagatellisiert, man verstärkt seine Anstrengungen, verteidigt seine Claims, polarisiert und geht in den Angriffsmodus über oder verlässt das Feld und geht einfach. Diese Phänomene sind umso intensiver und dauern umso länger, je mehr gelernt werden muss, d.h. je umfassender und tiefgreifender die notwendige Dekonstruktion ist.

Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.

Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt

 

 

Am Kipppunkt

 

Der Einschätzung, dass die jetzige Form von Kirche – in welcher konfessionellen Prägung auch immer – unwiderruflich zu Ende geht, wird heute selbst in Kirchenkreisen kaum jemand ernsthaft widersprechen. Die „nächste Kirche“ (die Kirche in der nächsten Gesellschaft) wird anders sein und es ist zu vermuten, dass die Veränderung sprunghaft verläuft. Solche Veränderungen lassen sich nicht steuern und sind grundsätzlich ergebnisoffen. Für viele scheint dieses Szenario zu schmerzhaft, um es an sich heranzulassen. Andere überhöhen sie spirituell. Wieder andere sehen darin die Erlaubnis, einfach das zu tun, was man halt für richtig hält oder gerne tut. Sie verbindet, dass man darauf verzichtet, den Transformationsprozess systematisch anzugehen und gemeinsam darum zu ringen. Hier zeigen sich schon Ansätze zur Zersplitterung.

Der Rahmen chaotischer Übergangsprozesse lässt sich bewusst gestalten (etwa die inneren Frames, mit denen die Beteiligten auf den Prozess schauen). Der gewählte Rahmen hat deutliche Effekte auf den Verlauf und u.U. auch das Ergebnis (selbst, wenn es nicht vorhersagbar ist). Aus therapeutischen Prozessen, z.B. in einer Familientherapie, wissen wir: Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt. Ein solcher Rahmen ist im Kern das Commitment, im Vertrauen (aufeinander, auf Gott) den Weg des Loslassens auf diese offene Weise in gemeinsamer Verantwortung füreinander und  miteinander zu gehen.

Vieles deutet darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.

Aufgrund der nicht-linearen Eigendynamik von Systemen gibt es für die Möglichkeit der Gestaltung solcher Prozesse allerdings nur ein begrenztes Zeitfenster. Auf dem Weg zu Veränderungen, die in die Tiefenstruktur des Systems reichen und daher absehbar disruptiv verlaufen, gibt es einen Kipppunkt, an bzw. nach dem es keine oder nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten gibt, sich zu vereinbaren, um den Rahmen für den Übergang zu gestalten. Die Gefahr ist groß, dass sich dann nicht nur die Gestalt (hier die konkrete Kirchengestalt), sondern darüber hinaus der kommunikative Bezug aufeinander und damit das System in seiner Substanz (Kirche als systemische Wirklichkeit jenseits organisatorischer  Ausprägungen) Schaden nimmt oder sich sogar auflöst. Aus einem „kontrollierten“ wird ein „unkontrolliertes“ Chaos mit einem hohen destruktiven Potenzial. Deutlich beschleunigte Trends, verschärfte Diskussionen über den „richtigen“ Weg in die Zukunft, das wechselseitige Absprechen von Kirchlichkeit, Drohungen und Schuldzuweisungen, die Frequenz kritischer Ereignisse, die größer werdende Zahl derer, die aufgeben etc. deuten darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.

 

 

Unterschiedliches Handling in den Kirchen

 

Die Kirchen unterscheiden sich im Umgang mit dieser Situation erheblich.2 In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen. Dennoch erreicht hier die Absetzbewegung inzwischen den Kern treuer und aktiver Katholiken in den Gemeinden. Die Austrittswelle nimmt Fahrt auf und ist inzwischen stärker als in der evangelischen Kirche. 60% der Verantwortungsträger in der katholischen Kirche halten die bisherige Gestalt von Kirche tendenziell für nicht zukunftsfähig, deutlich mehr als dies bei Verantwortungsträger:innen in den evangelischen Kirchen der Fall ist.3 Für sie scheint die Situation noch eher gestaltbar. Zudem sind in der katholischen Kirche Trennung und Kirchengründung keine Optionen, im Notfall bestehende Spannungen zu lösen. Man kann also dort das Feld nicht so einfach verlassen bzw. wechseln. In der Folge sind in der katholischen Kirche aktuell Polarisierungstendenzen deutlich virulenter. Das führt vielfach zu Lähmungserscheinungen, zu Aktionismus und zu weiterem Vertrauensverlust.

In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen.

Die Idee, dass Kirche über eine längere Zeit mit zwei (oder mehr) Betriebssystemen unterwegs sein  könnte ist in den Evangelischen Kirchen zumindest im Fachdiskurs angekommen (Philipp Elhaus spricht von „Ambidextrie“).4 Die breite Aufstellung von „Erprobungsräumen“5 ist – losgelöst von der Frage, was dort faktisch passiert – ein erster Versuch, dies systemisch zu verankern. Davon ist die katholische Kirche noch entfernt. Dort laufen Ansätze, vom Pfad abzuweichen und zu experimentieren, eher im Windschatten oder so planvoll und risikoavers,  dass systemrelevante Änderungsimpulse kaum zu erwarten sind und letztlich nicht gewollt werden, sofern sie denn systemrelevante Erschütterungen auslösen könnten, um die es ja im Kern dabei geht.

Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet. Man geht in der Praxis trotz vielfältiger Hinweise und Signale zumeist von nahezu linearen Prozessen und einer langfristig gesicherten Handlungsfähigkeit aus. Man glaubt oder suggeriert, die Prozesse kontrollieren zu können.

Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet.

In den evangelischen Kirchen ist das Wissen um die grundlegende Andersartigkeit der „nächsten Kirche“ durchaus vorhanden. Nur stellt sich angesichts des verbreiteten Pragmatismus und der dominanten Kultur der Machbarkeit die Frage, ob faktisch das Tempo und die Tiefe der Reformen reichen, um den unkontrollierten Zusammenbruch zu verhindern und den qualitativen Sprung in die nächste Kirche zu schaffen. In der Katholischen Kirche ist es angesichts der in den letzten 200 Jahren vollzogenen Zentralisierung von Macht und deren pyramidaler Zuspitzung und Immunisierung in der Hand des Papstes und der römischen Kurie mehr als fraglich, ob es bei den Verantwortungsträgern überhaupt die Bereitschaft gibt, lokal unterschiedliche Betriebssysteme geschweige denn eine Vielfalt unterschiedlicher Kirchenkulturen zuzulassen.

 

 

Sterben und Auferstehen – die DNA von Kirche

 

Wenn von Kirche gesprochen wird, ist der damit bezeichnete Sachverhalt mehrdeutig, weil der Begriff in unterschiedlichen Kontexten bzw. Sprachspielen gebraucht wird. Abgesehen davon, dass es in einem engen katholischen Verständnis überhaupt keine evangelischen Kirchen geben kann, bedeutet Kirche Unterschiedliches, je nachdem ob man mit einer kirchenrechtlichen, theologisch-dogmatischen, praktisch-theologisches, organisatorischen, betriebswirtschaftlichen, soziologischen … Brille auf die (gleiche) Wirklichkeit schaut.

Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden.

Dies ist zunächst unproblematisch, sofern man den Interpretationskontext jeweils mitliefert bzw. markiert. Geschieht dies nicht, entsteht Verwirrung, die man zumeist – bei gutem Willen – kommunikativ aufklären kann. Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine bestimmte Organisationsform, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, mit der dahinterliegenden systemischen (Erfahrungs-)Wirklichkeit (die sich organisatorisch in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konkretisiert hat) oder gar einer noch dahinterliegenden geistlichen Wirklichkeit gleich und absolut gesetzt wird. Dieses Manöver ist leicht durchschaubar: Es geht darum, bestehende Machtverhältnisse (die jede Organisation in der einen oder anderen Form mit sich bringt) zu immunisieren. Christian Hennecke zeigt in seinem Beitrag “Warum es so sein muss” in dieser Ausgabe, dass diese Position auch theologisch nicht haltbar ist.6

Differenziert man allerdings zwischen der Institution bzw. Organisation Kirche, also der Kirche in ihrer aktuellen rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit, und der dahinterliegenden und umfassenderen, 2000 Jahre währenden Kommunikations- und Erfahrungswirklichkeit Kirche, i.S. Luhmanns der systemischen Wirklichkeit Kirche, eröffnen sich ganz neue Entwicklungsperspektiven.

Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen.

Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen. Die anstehende Kulturveränderung ist organisatorisch so fundamental, dass deren DNA (ihre innere Logik, die Grundprinzipien ihrer Reproduktion als Organisation) betroffen sind. Das sorgt natürlich für Unruhe, v.a. bei denen, die Macht haben und Verantwortung tragen.

Damit geht jedoch die systemische Wirklichkeit hinter allen historisch bedingten organisatorischen Erscheinungsformen von Kirche nicht unter, im Gegenteil, sie zeigt, dass sie lebt. Die Wirklichkeit, der Kommunikations- und Erfahrungszusammenhang derer, die mit der Botschaft in Berührung gekommen sind und sich als Glaubensgemeinschaft verstehen, theologisch das Volk Gottes, beruht auf der Begegnung mit der unbedingten Liebe Gottes in Jesus Christus. Das ist der Kern christlicher Hoffnung: die Heilszusage Gottes, die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi erfahren wurde. Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung. Genau hier liegt der Masterplan ihrer über 2000-jährigen Geschichte. Sie verfügt über das Know-how, ihre konkrete Gestalt immer wieder grundlegend, bis in deren DNA hinein, zu verändern. Und genau das ist ihr Kernauftrag: Die Heilserfahrung und -zusage in jeder Zeit jeweils neu zu formulieren und zu formatieren.

Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung

Christian Hennecke schreibt: „Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.“7

 

 

Relevant vom Ursprung her

 

Am Anfang der christlichen Bewegung stand also eine Erfahrung und deren Deutung, die in ihrer Verbindung für die Menschen damals, Juden und Nicht-Juden, offensichtlich sehr überzeugend war, unabhängig davon, in welchem kulturellen Kontext sie sich bewegten. Die Evangelien beschreiben die Person Jesu und ihren Umgang mit den Menschen, in einer Vielzahl von Bildern und Geschichten. Stets ging von ihm eine Wirkung von Heilung und Befreiung aus. Jesus begründete sein Handeln mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Seine Jünger verstanden Handeln Jesu als Hinweis auf etwas Größeres, auf Heil und Erlösung. Sie verknüpften sein Auftreten mit dem Anbrechen des endzeitlichen Reiches Gottes (hebräisch מלכות malchut, griechisch Βασιλεία τοῦ Θεοῦ). In ihm sahen sie den Gesandten Gottes und drückten das Besondere an ihm – abhängig von der jeweiligen Kultur – in unterschiedlichen Bildern und Begriffen aus.

Umkehr, Sinnesänderung (griech. μετάνοια metánoia) steht am Anfang des Evangeliums und ist ein Kernbegriff im Neuen Testament (Mk 1,9-15). Es geht um nachhaltige Veränderung: Durch das Wirken Jesu entstand (in der Wahrnehmung der Zeugen) ein Raum, der neue Erfahrungen ermöglichte, die einen tiefgründigen Unterschied machten, die den kognitive Bezugsrahmen grundlegend veränderten und in diesem Sinne Umkehr, Wandlung und Entwicklung auf eine verheißene gute Zukunft hin in Gang setzten (vgl. Lk 24,13-35). 

Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.

Taufe und Mahlgemeinschaft sind rituelle Zeichen und Vergegenwärtigung dieser Erfahrungswirklichkeit. Sie war allem Augenschein nach so stark und fundamental, dass sie die Botschaft der frühen Christen auch über den Tod Jesu hinaus lebendig und wirksam halten konnte. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Sendungsauftrag Jesu „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15). Das Ende (der Auftrag) ist nur vom Anfang (der Umkehrerfahrung) her zu verstehen.

Systemisch betrachtet, wird hier – ausgehend von Jesus selbst – für die Jünger und die frühen Christen eine Rolle skizziert, die Hinweise geben kann, wie Kirche für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, relevant werden könnte. Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Eine Kirche, die dieser Logik folgt, übernimmt horizontale Führung in der Gesellschaft.

Voraussetzung hierfür ist, dass die Kirchen selbst den Erneuerungsprozess in seiner ganzen Breite und Tiefe annehmen und angehen.

 

 

Systemtherapie: Selbstreferenz und Umweltreferenz gewinnen

 

Systeme sind immer selbstreferenziell. Sie können nur das sein, was in ihrem Systemcode angelegt ist. Systeme sind lebendig, wenn sie Umweltreferenz herstellen, sich auf veränderte Umweltbedingungen immer wieder neu einstellen. Systeme werden dysfunktional, wenn der Zugang zu den eigenen Potenzialen oder die Kommunikation mit der Umwelt nicht (mehr) gelingt.

Aus systemtherapeutischer Perspektive ist bei den Kirchen (bei der katholischen Kirche stärker als bei den evangelischen Kirchen) sowohl die Fähigkeit, Umweltreferenz herzustellen, als auch die Fähigkeit, Selbstreferenz herzustellen, über weite Strecken blockiert oder gestört.

 

 

Wie kann ein gestalteter Weg aus dieser Engführung und Blockade aussehen?

 

Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.

Diese Erkenntnis führt nicht automatisch zum Handeln. Sie kann zu schmerzhaft sein, dass die Beteiligten in alte Muster zurückfallen oder sich mit kleineren Reparaturen an der Fassade begnügen, um ein besseres Gefühl zu haben. Erst wenn die Motivation, den qualitativen Sprung zu machen groß genug ist, wenn Neugier und Lust auf das Neue groß genug sind, entsteht Bewegung. Hilfreich ist es dabei, Frames zur Verfügung zu stellen, die den Übergang und die damit verknüpften Emotionen verstehbar und handhabbar machen. Für die Bereitstellung einer solchen Rahmung ist der Bezug auf die biblische Botschaft von zentraler Bedeutung.

Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.

Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung. Wenn der Weg ins Ungewisse gelingen soll, braucht es einen verlässlichen Beziehungsrahmen, das Commitment, das Kommende mit all seinen Turbulenzen im Vertrauen aufeinander und auf die gemeinsame Erfahrung der Liebe Gottes, in Verantwortung füreinander gemeinsam zu gehen. Hier ist es sicher so, dass die sich zeigende Zersplitterung ein Commitment umso schwieriger (und unverbindlicher) macht, je größer das System ist.

Wenn es dann losgeht, die Ressourcen für den laufenden Betrieb des Bisherigen systematisch und substanziell zu reduzieren (das beginnt angesichts der verbleibenden Zeit bei 50%), vorhandene Muster und Routinen zu unterbrechen, Bestehendes loszulassen, um überhaupt Räume für Lernen und Entwicklung zu schaffen, gerät das System zwangsläufig in Stress (das Fehlen von Stress ist ein Indikator, dass man nur an der Oberfläche kratzt). Wenn nichts mehr so funktioniert, wie bisher, und das Neue noch längst nicht erkennbar ist, entsteht Ungewissheit und Leere. Die Akteure sind irritiert, Emotionen kommen hoch, Interessensunterschiede werden sichtbar, Konflikte entstehen. Das gilt es miteinander auszuhalten und auszutragen. Hier hat Führung eine wichtige Rolle: das System zusammen und auf dem Weg zu halten und den Beteiligten bei allen Verwerfungen, die auftreten können, die Sicherheit zu geben, dass es eine gute Zukunft gibt. Hier ist die größte Gefahr, in Aktionismus zu verfallen und damit letztlich in die alten Muster.

Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung. 

Theologisch gesprochen führt der Weg der Erneuerung über das Kreuz (Joh 12,24). Nur wenn die Leere und Verlassenheit des Kreuzes ausgehalten wird, ist man bereit und in der Lage, auf das zu hören und zu erkennen, was wichtig ist, was der Kern der Hoffnung ist, das „Why“ (Simon Sinek), das antreibt und begründet, die Identität, die alles, was an Neuem kommt, verknüpft und energetisiert. Gerhard Wegner nennt das den „nächsten Glauben“. Er schreibt: „Das Neue wächst aus den Erfahrungen der Teilhabe an der Kraft Gottes: aus der leibhaftigen Partizipation an Kraftfeldern des Geistes.“8 Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen. Dennoch: Wenn es so ist, wird die Auflösung so oder so kommen.

Wenn das Mindset stimmt und der Raum vorhanden ist, wird Energie freigesetzt, dass Neues aus sich heraus entstehen kann. Dennoch ist auch hier Führung gefordert. Was gebraucht wird, ist abhängig von der Situation und den Kontextbedingungen. Es geht dabei stets um eine gute Balance zwischen strategischer Orientierung, Förderung und Unterstützung von Innovation und geschickter, sukzessiver Transformation, bei der v.a. Entscheidungen im Vordergrund stehen.

Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen.

Der beschriebene Prozess wird sich emergent von unten ereignen, wenn die Akteure es einfach tun. Er kann von der Führung behindert oder aber i.S. horizontaler Führung unterstützt werden. Letzteres braucht viel Fingerspitzengefühl, um das rechte Maß an notwendiger Sicherheit und hinreichendem Tempo zu finden. Mehr Tempo scheint angesagt und mehr Mut, Bisheriges sein zu lassen.

 

 

 

1.     Dessoy, V., Zukunft der Kirche im Prozess des gesellschaftlichen Wandels, in: Drumm, J., Oeben, S. (Hrsg.) CSR und Kirche. Die unternehmerische Verantwortung der Kirchen für die sozial-ökologische Zukunftsgestaltung, Berlin 2022; Dessoy, V., Hahmann, U., Führen an der Schwelle zur nächsten Kirche, in: Dessoy, V., Klasvogt, P., Knop, J. (Hrsg.), Riskierte Berufung – ambitionierter Beruf, Priester sein in einer Kirche des Übergangs, Freiburg i.Br. 2022.

2.     Vgl. Dessoy, V., Hahmann, U., Zeit des Übergangs. Befragung von Diözesen und Landeskirchen zum Verständnis von Veränderung und zum Vorgehen in aktuellen Transformationsprozessen

3.     Vgl. Hahmann, U., Dessoy, V., Reintgen, F., Hat die aktuelle Sozialgestalt von Kirche eine Zukunft. Befragung kirchlicher Führungskräfte im Vorfeld des 7. Strategiekongresses, in: futur 2 – 2/2022

4.     Vgl. dazu auch Etscheid-Stams, M. Kirchenentwicklung in Zeiten des Klimawandels. Es gilt, radikale und rasante Lösungen zu finden.

5.     Vgl. exemplarisch die strategische Bedeutung der Erprobungsräume in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern und in der Evangelischen Kirche im Rheinland

6.     vgl. Hennecke, C., Warum es so sein muss. Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien

7.     Hennecke, C., Warum es so sein muss. Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien

8.     Wegner G., Ekklesiogenese: Fülle, Kraft, Empowerment. Ein Plädoyer für das Anstößige des Glaubens

 




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Jesus wollte keine Priester!

von Michael Schrom 

vom 11.03.2022, in PUBLIK-FORUM

 

Vom Neuen Testament führt kein Weg zum Weihepriestertum. 

Warum wir dennoch einen Klerikerstand haben, 
obwohl das Christentum keine Priester braucht. 

 

Ein Gespräch mit dem Exegeten Prof. Dr. Martin Ebner. 

 

 

Publik-Forum:  Herr Professor Ebner, die katholischen Priesterseminare sind leer, der Klerus hat Vertrauen verspielt, es wird über das Zölibat diskutiert, doch die eigentliche Frage lautet: 

Braucht das Christentum Priester?

 

Martin Ebner:  Das Christentum braucht nicht nur keine Priester. 

Es gibt sogar vom Neuen Testament her eine klare Absage gegen die Vorstellung, 
Priester könnten die Vermittlung zwischen Gott und Mensch durch die Ausführung bestimmter Riten leisten. 

 

Die katholische Kirche begründet das Priestertum damit, dass Jesus den Aposteln die Leitung der Jüngerschaft anvertraut hat. Diese haben dann die Verantwortung durch Handauflegung und Gebet von Generation zu Generation weitergegeben. Das Priesteramt sei deshalb zwar nicht von Jesus direkt gegründet, aber eine logische Folge seines Willens. 

 

Ebner:  So steht es im ersten Clemensbrief, der etwa im Jahre 90 nach Christus geschrieben wurde. Dort gibt es die Vorstellung eines unveränderlichen, gottgewollten Amtes, das über Christus und die Apostel an die Bischöfe weitergegeben worden ist. 

Aber dieser Brief wurde nicht in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen, obwohl er die spätere Lehre vorwegnimmt. Ein starkes Zeichen gegen diese Konzeption! 

 

Trotzdem ist es ein bis heute wirkmächtiges Narrativ. 

 

Ebner:  … dessen nicht-kanonischer Ursprung meistens verschwiegen wird. 

Natürlich, jede Gruppe braucht Organisation. 

Im Umgang mit Ämtern waren die frühen Christen so pragmatisch wie kreativ. Aus der städtischen Verwaltung übernahmen sie, was ihnen brauchbar schien. 

Paulus versucht Führung über Charismen zu regeln. In anderen Schriften ist die Rede von Presbytern. Das waren Älteste, die sich im Team um die Belange der Gemeinden kümmerten. Die Pastoralbriefe kennen den Episkopus (Bischof) als Leiter der Presbyter. 

Aber wichtig ist: Die Presbyter haben nichts mit den Priestern im Alten Testament zu tun. Diese waren Kultmanager. Sie bildeten einen eigenen Stand und waren für die Opferdarbringung zuständig, mit der die Versöhnung der Menschen mit Gott zelebriert wurde. 

 

Ein solches Priestertum gibt es im Neuen Testament nicht. 

Wieso haben wir dann einen Klerikerstand, der durch Weihe und bestimmte Vollmachten charakterisiert ist? 

 

Ebner:  Anfang des dritten Jahrhunderts setzen sich die Gemeinde-Ältesten in eine bewusste Analogie zu den alttestamentlichen Priestern, mit dem Ziel, wie diese von den Gläubigen finanziert zu werden. Es setzt eine Professionalisierung und Sakralisierung ein. 

Die Vermittlerfunktion der alttestamentlichen Priester dient als Rollenvorbild für neutestamentliche Gemeindeleiter. 

So werden aus Freizeitältesten und -bischöfen Vollzeitbeschäftigte, die sich »Priester« nennen, einen eigenen Stand bilden, den Klerus, der sich von Laien absetzt. 

So begann eine Zwei-Stände-Ordnung, die mit dem gesellschaftlichen Aufstieg des Christentums zusammenhängt. 

. . . 


Warum gab es keine innerchristlichen Reformbewegungen,
wenn das real existierende Priestertum in solch krassem Gegensatz zum Neuen Testament stand? 

 

Ebner:  Weil sich das Gewohnte meist wieder durchsetzt. In der antiken Mönchsbewegung des Eustachius aber gab es den Versuch, ein egalitäres Christentum zu leben. Später bei Franz von Assisi, der sich bewusst nicht zum Priester weihen ließ.
Und natürlich in der Reformation.
Luther hat den wunden Punkt erkannt, als er das Priestertum als Stand abschaffte und den Laienkelch einführte. 

 

Auf dem Synodalen Weg wird argumentiert, wir brauchen Priester, um Eucharistie feiern zu können. Ist das vom Neuen Testament gedeckt?

 

Ebner:  Nein. Die Papiere aus dem Forum »priesterliche Existenz« bleiben unter dem Anspruch des Neuen Testaments, auch wenn es gute praktische Vorschläge gibt. Mag sein, dass die Argumentation kirchenpolitisch klug ist. Aber man umschifft den entscheidenden Punkt der Reformdebatte: Wenn die Abschaffung der katholischen Ständegesellschaft nicht gelingt, rennen wir immer gegen eine Mauer, wenn wir Demokratisierung einfordern.
Dann bleiben die Laien Bittsteller gegenüber einem durch die Weihe privilegierten Stand. Deshalb wird ja auch von interessierten Kreisen versucht, aus Jesus einen Priester zu machen, ihn zum Urbild des katholischen Priesters zu erklären. Das wird weder der Historie noch der Intention Jesu gerecht. Jesus hat ziemlich gehässige Sachen über Priester gesagt. Denken Sie nur an den barmherzigen Samariter. 

 

Keiner weiß, wie sich Kirche und Christentum in Europa entwickeln. Was ist in dieser Übergangszeit wichtig? 

 

Ebner:  Sonntags das Herrenmahl zu feiern, auch in kleinen Gemeinden. Das haben Christen von Anbeginn getan. Die Erinnerung an Jesus im Mittelpunkt, nicht die Frage nach dem Vorsitz. Wir brauchen auch eine Kultur der Berufung, die von unten ausgeht. Dass man zum Beispiel auf jemanden in der Gemeinde zugeht und sagt: Du interessierst dich für philosophische und theologische Fragen, möchtest du das nicht studieren? Du hast Organisationstalent, kannst du das nicht einbringen? Du hast ästhetisches Gespür, willst du nicht Liturgie gestalten? 

 

Sie selbst sind Priester. Haben Sie dies je bereut? 

 

Ebner:  Nein. Es war und ist für mich erfüllend, Menschen zu begleiten und das Leben eines Menschen mit der Brille der Bibel zu würdigen. Mich interessiert die Schriftauslegung. Sie prägt mein Leben: Wie kann ich das, was ich exegetisch feststelle, ins Hier und Heute übersetzen? Ich verstehe mich nicht als Kultpriester, der durch die Weihe exklusive Befugnisse hat oder irgendwie Gott näherstünde. Ich verstehe mich als Vermittler eines guten Lebens – in der Spur der Bibel und vor allem Jesu von Nazareth. 

 


Martin Ebner, geboren 1956, war Professor für Neutestamentliche Exegese an den katholisch-theologischen Fakultäten der Universitäten Münster und Bonn.

Aus
PUBLIK-Forum
Zeitschrift für kritische Christen



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Abschied von der Priester-Kirche

Beamtete Gottes-Vermittler hat Jesus nicht gewollt


Eugen Drewermann und Jacques Gaillot

Noch nie ist die Polarisierung unter den deutschen katholischen Bischöfen
öffentlich so deutlich geworden
wie nach dem Katholikentag Mitte Juni 2008 in Ulm.
Wild schlug die Garde der reaktionären und konservativen Kleriker
um den Kölner Kardinal Joachim Meisner um sich.
Besonderer Stein des Anstoßes: dass der Katholikentag
den Kirchen- und Dogmenkritikern Hans Küng,
Eugen Drewermann und Jacques Gaillot ein Forum geboten hat.
Während die Veranstalter auf Integration und streitbaren Dialog setzten,
verweigern die Konservativen jede Auseinandersetzung in der Sache.
Am Ende wissen sie gar nicht, worum es eigentlich ging.

Publik-Forum gibt im Folgenden den Wortlaut des Gesprächs
auf dem Podium »Abschied von der Kleriker-Kirche?« wieder.
Einige Passagen wurden gekürzt.
Insgesamt ist der Duktus des gesprochenen Wortes beibehalten worden.
Das Gespräch moderierte Peter Rosien,
theologischer Chefredakteur der Zeitschrift "Publik-Forum".

Die Christen heute denken selber.
Und das ist sicher viel wichtiger
als das Zusammenbrechen der kirchlichen Strukturen.



Die Diskussion im Wortlaut:


PETER ROSIEN:   Meine erste Frage geht an Sie, Herr Drewermann:
Der Glaube im Sinne der kirchlichen Lehre verdunstet heute,
Umfragen belegen das immer neu.
Die geistliche Orientierungslosigkeit der Menschen in Mitteleuropa schreit zum Himmel,
die professionellen Verkünder und Vermittler des Glaubens,
die Priester und Pastoren beider Konfessionen,
scheinen auf der ganzen Linie zu versagen.
Was läuft da schief?

EUGEN DREWERMANN:   'Ich möchte die Antwort geben in einem etwas größeren Zusammenhang und weiß nicht, wie ich Sie anreden soll: »Sehr verehrte Damen und Herren« ist korrekt, »meine lieben Schwestern und Brüder« möchte ich sagen,
darf ich aber eigentlich nicht sagen.
Seit 13 Jahren darf ich keine Messe lesen, keine Beichte hören, auch die Kommunion nicht mehr empfangen,
es sei denn, ich würde mich als öffentlicher Sünder bekennen
und meine Werke und Gedanken bereuen.
Dem wird nie so sein, wie ich hoffe.
Dennoch sind Sie meine Brüder und Schwestern.
Was machen Sie heute, fragen manche Journalisten. Und ich kann nur sagen:
Was ich all die Jahre versucht habe,
den Priester als Funktionär der Kirche und Beamten einer Institution
hinter mir zu lassen, um ein Mensch zu werden.
Denn das genau müssen wir alle.
Wir müssen die katholische Kirche überwinden, um Christen zu werden,
und zwar möglichst sogar das Christentum hinter uns lassen, um Gott zu begegnen.
Der Jude aus Nazareth dachte so.
Im 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums finden Sie ein Gleichnis,
das man gar nicht anders lesen kann
denn als antiklerikal.
Die Einleitung kennen Sie alle.
Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho, fiel unter die Räuber,
die plündern ihn aus und lassen ihn halbtot am Wegrand liegen.
Da kommt vorbei ein Priester.
Jeder vor zweitausend Jahren wird die Ohren gespitzt haben:
Ein Priester ist die Musterausgabe der Frömmigkeit,
das Vorbild der so genannten Laien. Wie er sich verhält, muss man sich verhalten.
Also, was wird er tun?
Er sieht, erklärt Jesus, den schwer Verletzten und geht vorüber.
Wir müssen hinzufügen, er kann überhaupt nicht anders.
Schlagen Sie nach im Buche Leviticus, 21. Kapitel:
Ein Priester hat sein Leben lang kein Recht, den Leichnam eines Menschen zu berühren.
Er darf sich nicht die Reinheit besudeln mit dem Menschenblut am Wegesrand,
damit er pünktlich und koscher seine Opfer im Tempel von Jerusalem darbringen kann.
Was ist das für ein Gott, fragt Jesus im Grunde.
Ihr möchtet wissen, wo ihr Gott begegnet,
und sie erzählen euch, ihr müsst hören auf die Priester.
Sie sind die Gottes-Experten, sie haben es gelernt,
kennen die 600 Gebote des Moses und die 2000 Kommentar-Gesetze
aus der mündlichen Tradition.
Sie wissen, wann man die richtige Formel am richtigen Ort beim richtigen Opfer
spricht und vollführt.
Und unabhängig von den Priestern findet ihr nicht Gott.
Aber findet ihr ihn wirklich im Tempel? So fragt Jesus.
Da ist ein Gott, verdeutlicht er, der ständig Opfer benötigt,
Tierblut muss fließen, unschuldige Lebewesen müssen geschlachtet werden,
immer braucht man Opfer,
um einen Gott zu versöhnen, der in alle Ewigkeit ambivalent bleibt.
Er vergibt, aber nur unter Vorleistungsbedingungen.
Er verzeiht, aber nur, wenn ihr euch entsprechend korrekt nach den Vorgaben
des Priesterwissens verhaltet.
So werdet ihr nie frei, sondern jeden Tag neu abhängig.
So verliert ihr niemals eure Angst, sondern bleibt ständig gebunden.
Wolltet ihr die Angst überwinden durch Vertrauen, brauchtet ihr keine Priester mehr.
Das aber wollte Jesus, genau das.
Dass wir redeten mit Gott wie ein Kind mit seiner Mutter, wie mit seinem Vater.
Es müsste nicht mehr länger zum größeren Onkel gehen
und ihn als Vermittler einschalten.
Vertrauen wie ein Kind und kein Dienst mehr im Tempel!
Der protestantische Pastor und Freud-Schüler Oskar Pfister
hat in den 40er Jahren diese Struktur des römischen Katholizismus
und der Rolle der Priester darin vollkommen richtig analysiert.
Solange es den Vermittlungsdienst von Kirchenbeamten braucht, um Gott zu begegnen,
sind die Menschen ständig entfremdet in ihrem eigenen Inneren,
und das Gottesbild ist aufgespalten
zwischen Vertrauen und Angst, zwischen Liebe und Hass,
zwischen Freiheit und Unterdrückung.
Immer bleiben die Menschen außengelenkt.
Es gibt zwei Zeichen, die in der katholischen Kirche für den Kleriker reklamiert werden:
der Status des beamteten Opfervollziehers
und der Status als Lossprecher von Sünden.
Und man muss dies nur beziehen auf das, was Jesus wollte,
und begreift sofort, wie grotesk alles gelaufen ist.
Hauptanliegen Jesu war es, die Menschen einzuladen ohne Vorbedingungen,
seien es Opfer oder sei es moralisches Korrektverhalten.
Es gibt einen Punkt, in dem das Christentum sich spezifisch unterscheidet
von jeder anderen Religion,
auch vom Judentum, aus welchem Jesus kam,
oder vom Islam, der sich auf die neutestamentliche Botschaft mittelbar bezieht.
Judentum und Islam sind Gesetzesreligionen und versuchen das menschliche Leben moralisch durch klare Begriffe zu ordnen.
Der Mann aus Nazareth hat erlebt und gesehen, was wir alle wissen können.
Die Menschen sind viel zu verzweifelt, zerbrochen, liegen am Boden.
Es ist nicht wahr, so hören sie; dass Menschen Böses tun,
weil sie böse sind und weil sie Böses wollen.
Das Böse im Menschen hat eine begreifbare Geschichte, und die muss man durchgehen,
die Geschichte der Angst, die Geschichte der Entfremdung,
die Geschichte der Verzweiflung, die Geschichte der Entmündigung,
die Geschichte der Quälerei von außen, im Namen Gottes womöglich.
Und dann hat man kein Recht, als Kirchen- oder Staatsbeamter zu kommen
und die Grenzen zu schließen gegen die Verlorenen.
Wie lebt man die Einladung Jesu an die am meisten Zerbrochenen?
Diese Heimholung der Heimatlosen?
Das ist die Mahlgemeinschaft mit Jesus als dem von Israel erwarteten Messias.
Sie finden daraus gemacht den Zankapfel zwischen den Konfessionen
und ein Prämiensystem für moralisches und dogmatisches Rechtverhalten.
Denn alle sollen sie glauben, dass kein protestantischer Pastor
sonntagsmorgens ein Abendmahl würdig feiert,
sondern nur ein katholischer Priester, gesetzt vom Papst über die katholischen Bischöfe.
Dies trennt die Ökumene.
Was wir haben, ist eine Art von Amtsmagie
und eine Objektivierung Gottes zu einem Gegenstand.
Da sollen Gaben sich wandeln.
Aber die Frage Jesu war nicht, wie wandelt sich Brot und wie wandelt sich Wein,
sondern wie wandelt sich das Herz der Menschen.
Wie öffnet sich's so, dass der eine lernt vom anderen, mit dem anderen,
für den anderen zu leben?
Auf solche Weise sollten wir verstehen, dass Jesus sich zum Brot und zum Wein machte,
zur Nahrung und zu einer rauschhaften Freude.
Das alles geht aus von seiner Existenz,
daraus lässt sich keine Amtsmagie ableiten, das will gelebt sein,
und die Grenzenlosigkeit der Einladung ist das Probestück darauf.
Dass eine Frau, die geschieden ist und in neuer Ehe lebt,
nicht zum Tisch des Herrn gehen kann,
ist skandalös und ungerecht.
Und für wie viele gilt es.
Dass man nicht trennen darf zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen,
wusste Jesus und lebte Jesus.
Zum Zweiten: Jesus wollte therapeutisch sein.
Das schließt sich vollkommen logisch dem an, wovon wir redeten.
Es geht um die Gabe der Vergebung.
Auch sie ist reklamiert für die Priester im Buß-Sakrament.
Aber in Wahrheit ist sie eine unerhörte Fähigkeit menschlicher Reifung in uns selber.
Das Johannes-Evangelium gibt davon die Kunde.
Wie überreifen sich Wunden, die bis ans Herz griffen?
Immer wenn ich die Bergpredigt auszulegen versuchte im Gottesdienst,
kamen Menschen, die es ernst meinten und sagten,
ich kann nicht sieben mal siebzig Mal vergeben.
Ich kann nicht einfach sagen, es ist nicht schlimm gewesen, wenn es schlimm war.
Ich habe so viel Wut in mir. Ich bin so zerbrochen. Und ich komme nicht darüber weg.
Das ist völlig wahr.
Als ich Psychoanalyse studierte, wusste ich nicht, wie lang die Wege sein müssen,
um vergebungsbereit zu werden.
Wie viel Liebe es benötigt, um alte Verletzungen zu überreifen.
Aber dann kann ein Geist wehen, der weit wird.
Und den schenkt Jesus am Abend des ersten Ostertages den Jüngern
in einem Saal mit verschlossenen Türen.
Durch die ging er immer, ging er in die Angst der Menschen hinein.
Vergeben kann man nicht in einem Bußgericht,
es ist überhaupt nichts von außen zu richten.
Ein Ritual der Beichte, das vergibt, ohne durchzuarbeiten,
macht sich psychologisch und menschlich nicht länger mehr plausibel.
Jeder begreift, dass allein schon die Zweiteilung nach Gut und Böse ihm Unrecht tut.
Alle Dinge haben ihre Bedeutung gehabt und ihren Sinn, als sie geschahen.
Und man muss die ganze Geschichte eines Menschen durchgehen,
um zu verstehen, wie er zu dem kam, als er dies und das tat.
Psychotherapie und Beichtpraxis greifen heute ineinander,
und beide sind nichts weiter als eine gelebte Form der Menschlichkeit.
Um vergeben zu können, müssten wir reifen in uns.
Aber dann müssten wir das Priester-Institut der Vergebung vergessen, intensivieren,
um über die Grenzen und Zäune hinweg einander die Hände zu reichen.
Dann wünschte ich mir eine Kirche, die offen wäre auch im Engagement des Politischen.
Bischof Jacques Gaillot ist für die »Sans Papiers«, für die Asylsuchenden ohne Papiere, aus reiner Wahl und Sympathie Bischof dieses Anliegens geworden.
Die Kirche in Deutschland, müssen Sie wissen, mon cher ami Gaillot,
ist eine Kirche, in welcher die Bischöfe Staatsbeamte sind.
Sie sind direkte Nachfolger immer noch der Fürst-Erzbischöfe
aus der Zeit des 17. Jahrhunderts.
Sie schwören auf die Verfassung, sie können niemals wirklich kritisch sein.
Nicht gegen die absurde Asylpolitik, nicht gegen den Krieg,
nicht gegen den Neoliberalismus.
Sie haben kein einziges klares Wort für Menschen, die nicht weiter wissen.
Und das sind inzwischen Millionen.
Wie ist es möglich, dass die katholische Kirche nicht wägt zu sagen:
Niemand flieht aus dem Ort, der seine Heimat war,
es sei denn, er ist tödlich an Leib und Seele bedroht,
nur dann geht er auf die Suche nach einem Ort, an dem er leben möchte.
Wie kann es sein, dass wir alle Grenzen öffnen für den Transfer von Waren und Kapital
und alle Grenzen schließen für die Folgen dieser Praxis,
und die Kirche schweigt dazu?
Wie ist es möglich, dass der Papst George W Bush empfängt
und hat kein einzig wirklich klares Wort zu sagen?
Man hätte die Grille beinahe mal gehört.
Aber: Jeder Krieg sei ein Verlust der Menschlichkeit, das hätte er sagen müssen.
Doch dann müsste man aufhören, Macht verwalten zu können und zu wollen.
Dies ist der Kernfehler der Römisch-Katholischen Kirche im Umgang mit den Klerikern.
Sie bindet den Wahrheitsbesitz dogmatisch an ein Amt.
Sie nimmt die Wahrheit Gottes, die in der Person der Menschen liegt, den Individuen weg
und delegiert sie an eine fertige Institution.
Ab sofort ist es gleich, wer Sie als Mensch sind,
wenn Sie nur Bischof sind, wenn Sie nur Priester sind,
dann haben Sie die Amtsgnade, können Sünden vergeben,
selbst wenn sie noch so nichtig sind.
So kann es nicht sein.
Die Kirche müsste eine Asylstätte sein für alle Verlorenen,
und jeder würde spüren, dass er selbst nur lebt aus einer Vergebung,
die er nicht verdient hat, aber unbedingt benötigt.

ROSIEN:   Danke schön, Eugen Drewermann.
Bischof Gaillot: Auch Sie möchte ich fragen:
Was machen wir damit, wenn der Glaube heute so stark verdunstet,
wenn die geistliche Orientierungslosigkeit der Menschen in Mitteleuropa
so groß geworden ist?
Was machen denn die professionellen Verkünder und Vermittler des Glaubens falsch?

JACQUES GAILLOT:   Ich freue mich, dass ich bei Ihnen bin.
Und ich danke dem Katholikentag, dass man den Mut gehabt hat,
Eugen Drewermann und mich einzuladen.
Um auf die Frage zu antworten, schlage ich Ihnen vier Überlegungen vor.
Die erste: Wir sind in eine neue Welt gestolpert.
Wir sind in einer Zeit, wo alles in Bewegung ist.
Es gibt keinen geschützten Raum und keine Tabus mehr.
Und manchmal haben wir den Eindruck, dass wir auf einem Boden gehen,
der sich uns entzieht. Und gleichzeitig sind wir Zeugen des Individuums,
das in der Gesellschaft auftaucht und sich viel Platz nimmt.
Das Individuum mit seinem Bewusstsein, mit seinen Rechten.
Und das Individuum will sich selber definieren.
Und jeder hat das Recht auf die Selbstverwirklichung, auf die persönliche Erfüllung,
die Erfüllung in dieser Welt.
Das Zweite: Wenn man diese Veränderung positiv leben will wie eine Chance
und wie eine Herausforderung, dann können wir sehen,
dass diese Veränderungen Chancen für die katholische Kirche sind,
Provokationen, die zum Heil führen.
Das heißt nicht, dass es uns an Glauben fehlt, aber dass wir zu wenig beten.
Die Veränderungen der Welt zwingen uns dazu, uns auch zu verändern.
Und darum ist es viel wichtiger, auf das zu achten, was neu entsteht,
als auf das, was verschwindet. Wir leben in einer interessanten Zeit. Es entsteht Neues.
Es geht nicht darum, nur noch das zu verwalten, was besteht, sondern Neues zu schaffen.
Wir leben in einer kreativen Zeit oder, wie Jesus im Evangelium sagt:
Neuer Wein gehört in neue Schläuche.
Und drittens: Es besteht eine Not-wendigkeit, den Dialog
zwischen den verschiedenen Religionen aufzubauen, damit es vorwärts geht.
Um zu wachsen und vorwärts zu kommen,
brauchen wir die anderen Kirchen und die anderen Religionen.
Mein vierter Punkt: Für die Zukunft der Kirche gibt es nicht nur
die europäische Perspektive.
Vielleicht liegt die Zukunft in anderen Kontinenten
und nimmt auch ganz andere Formen an.
Und vielleicht können wir die Zukunft nicht nach unserer Kultur bestimmen,
nach unserer Art zu denken und zu organisieren.
Vielleicht liegt die Zukunft der Kirche in ganz anderen Ländern als im alten Europa.
Wir brauchen die Demut, auf die anderen Kirchen, auf die jungen Kirchen
in anderen Kontinenten zu hören und von ihnen zu lernen.

ROSIEN:   Wir sollten jetzt auch mal etwas konkret rein in den Priesterberuf gehen.
Da ist für mich die Frage der Weihe.
Das hat ja in der katholischen Kirche fast eine ontologische, eine übernatürliche Qualität.
Meine Frage an meine beiden Gesprächspartner:
Gibt es überhaupt biblische Grundlagen für die Unterscheidung
von Priestern und Gläubigen?
Vielleicht zuerst Sie, Herr Bischof.

GAILLOT:   Die Fragen werden schwieriger.
Auch hier möchte ich mit vier Überlegungen antworten.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat uns vorgeschlagen,
von Priestern immer im Plural zu reden und niemals vom Priester in der Einzahl.
Es gibt nicht den Priester, es gibt viele verschiedene Priester.
Ich habe einen Freund in Paris, der ist Priester und gleichzeitig Psychoanalytiker
und Fernsehjournalist.
Und wenn man von Priestern spricht, muss man als Erstes aufhören, von ihnen zu reden, sondern wir müssen von der Verantwortung aller Christen reden.
Im Mittelpunkt steht das Volk Gottes.
Und zweitens: Man muss nicht die Laien und die Priester gegenüberstellen.
In Frankreich spricht man von Gemeinschaft und von Dienst.
Das ist von früher, diese Gegenüberstellung Priester - Laie.
Die Problematik hat sich völlig verschoben, und es besteht eine Entwicklung an der Basis. Und die Menschen, die lange kirchenfern gelebt haben, die sind ganz erstaunt,
wenn sie die Kirche heute sehen.
Und wenn Sie heute ein Sakrament wünschen, also eine Taufe für Ihr Kind zum Beispiel, dann finden Sie eine ganze Gruppe von Laien, die sich darum kümmern.
Und es gibt heute neue Dienste, die von verheirateten Männern und Frauen ausgeübt werden, festgelegte Aufgaben für eine bestimmte Zeit. Das kann man vielleicht
auch verlängern, und das sind Dienste, die mit anderen beruflichen Verantwortlichkeiten
völlig problemlos zusammengehen.
In diesem Zusammenhang heißt die Ordination, also die Weihe, einfach,
dass ein Mensch sich ganz speziell und offiziell
dem Dienst der Kirche zur Verfügung stellt.
Und der Dienst besteht darin, dass die Gemeinde wächst.
Ein Element dieses Dienstes sind die Sakramente.
Die Sakramente sind Zeichen der Gegenwart, des Entgegenkommens Gottes.
Und es ist völlig selbstverständlich, dass Menschen, die diese Sakramente den anderen geben, von der Kirche offiziell anerkannt sein müssen.
Die Weihe bedeutet, dass die Kirche die Dienste anerkennt,
die der Gemeinschaft geleistet werden:
Die Verkündigung des Evangeliums, die Versammlung um das Herrenmahl,
die Feier der Sakramente und die Verbindung zwischen den verschiedenen Kirchen.
Man kann ohne weiteres die Weihe für Menschen vorsehen ohne große Vorgaben,
was das Geschlecht anbelangt oder den sozialen Status und auf bestimmte Zeit.
Sie würden der Kirche ein menschlicheres Gesicht geben.
Und sie würden zu einem demokratischeren Verhalten beitragen.
Das Dritte: Wir müssen das Heilige, das Geheiligte richtig verstehen.
Seit Jesus wissen wir, dass der Mensch heilig ist, der Mensch, Mann und Frau,
die nach dem Bild Gottes geschaffen sind.
Jesus sagt, was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.
Die Menschen, vor allem die Schwachen und die Elenden, sind heilig.
Es ist nicht die Funktion, die heilig ist, sondern der Mensch.
Es kommt vor, dass die Leute zu mir sagen, wir respektieren ihr Amt,
aber wir mögen den Menschen nicht.
Ich würde es umgekehrt lieber haben.
Das Vierte: Wir sollten die Eucharistie nicht auf den Satz Jesu reduzieren:
»Dies ist mein Leib.«
Als Jesus seine Freunde versammelt für ein letztes Mahl, da denkt er an den Exodus,
an den Auszug aus Ägypten. Er feiert Gott, der aus allen Zwängen herausführt
und den Weg in das verheißene Land öffnet.
Und Ostern feiern wir die vielen Wege der Befreiung,
die Jesus für die Menschen vorgesehen hat.
Und wenn Jesus sagt: »Dies ist mein Leib«, dann heißt das;
ich bin ganz bei euch. Mein Leib ist eurer.
Ich bin solidarisch mit der Menschheit, jenseits der Trennung des Todes.
Die exegetische Seite daran?
Also, ich bin kein Exeget, und ich kann darauf nicht antworten.
Ein Bischof kann nicht alles wissen.

ROSIEN:   Das ist schön gesagt, Herr Bischof.
Aber ich habe den Eindruck in der katholischen Kirche steht doch die Weihe des Priesters
eben noch sehr stark im Zentrum.
Unterscheidet die Weihe einen Priester von einem anderen Christen?
Das möchte ich Sie fragen, Herr Drewermann.
Und gleich dazu:
Können Sie etwas über mögliche biblische Grundlagen
einer solchen Unterscheidung sagen?

DREWERMANN:   Nach katholischem Dogma kann ein katholischer Priester,
der gültig geweiht worden ist, in alle Ewigkeit Dinge, die niemand kann,
wenn er nicht Priester ist, zum Beispiel gültig die Lossprechung in einer Beichte vollziehen,
zum Beispiel die Wandlungsworte gültig sprechen.
All das kann nicht ein protestantischer Pastor morgens um zehn am nächsten Sonntag.
Und wer so nicht exakt glaubt, ist im Grunde nicht exakt katholisch.
Wenn es so steht, ist die Weihe etwas, das einen Menschen herausholt
aus dem Verband aller anderen Menschen. Eben deshalb heißt er Kleriker.
Er hat ein Sonderlos bei Gott gezogen. So heißt das wörtlich.
Diese Vorstellung verdankt sich manchen Entwicklungen, die im Neuen Testament,
vor allem in den Pastoralbriefen, zu beobachten sind
am Ende des ersten, Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts.
Man müsste diese Entwicklung allerdings eher sich verdeutlichen
auf dem Hintergrund der Ethnologie als der Exegese.
In allen Stammesverbänden hat man die Neigung, bestimmte Funktionen zu sakralisieren,
also in ein Tabu zu stellen, über das nicht nachgedacht werden kann.
Es bildet in sich selber eine Sphäre, die sich von allem Profanen unterscheidet
und die durch den Sonderstatus der Amtsträger dann auch nach außen
kenntlich gemacht wird. Zum Beispiel durch den Zölibat der Priester.
Biblisch in dem Sinne, dass Jesus diese Entwicklung gewollt hätte, ist dies keinesfalls.
Jesus selber war, ich denke aus gutem Grunde, niemals Priester.
Das mag manchen Katholikinnen und Katholiken hier im Saale sehr schwer sein,
sich vorzustellen, wie eine Religion ohne Priester auskommen soll.
Nun denn, das Judentum selbst, aus welchem Jesus kommt, hat lernen müssen
nach dem Jahre 70, ohne Priester zu leben.
Und es hat dadurch an mystischer Energie und an Frömmigkeit sehr gewonnen.
Der Buddhismus hat die gesamte Priesterschaft im Brahmanismus beiseite getan.
Warum zur Ganga gehen, sie ist nur Wasser, sagte der Buddha.
Alles geschieht in euch selber oder überhaupt nicht.
Das ist der Beginn einer mystischen Verinnerlichung jeder Religion.
Ganz sicher wollte Jesus uns auf diesen Weg bringen.
Durch dieses Amtsverständnis haben wir die eigentliche Barriere
zur Wiedervereinigung der Christen.
Wir werden mit den Protestanten, mit den Kirchen der Reformation,
nicht zurechtkommen, solange wir an dieser Amtsmagie,
wie ich es einmal nenne, festhalten.
Bischof Jacques Gaillot hat völlig Recht nach meiner Meinung, ich denke ganz wie er.
Wir müssen das Priestertum von unten definieren.
Aber das ist ein Modell des Denkens, das die alte Interpretation
völlig auf den Kopf stellt, diametral ablöst.
Man hat bisher das Priestertum von oben gedacht.
Da ist Gott im Himmel, dann ist sein Stellvertreter, der Papst, und der setzt Bischöfe ein,
und die bestimmen den Ortspriester, alles von oben nach unten.
In der Systemtheorie lernen wir, dass es überhaupt keine Prozesse gibt,
die nicht von unten her beginnen.
Das Leben organisiert sich selber.
Gemeinden brauchen Gemeindeleiter, aber sie müssen natürlich wählbar sein,
abwählbar sein. Was spräche dagegen, dass wir den Papst selber wählen würden?
Nach spätestens fünf Jahren Amtszeit. Rom hat immer die irrige Vorstellung,
dass die Menschen ins Chaos gelangen,
wenn man ihnen nicht ein Korsett von Ordnungen verschreibt.

ROSIEN:   Nun gibt es ja immer weniger Priester.
Das ist in Deutschland nicht anders als in Frankreich.
Ein Priester muss viele einst selbstständig gewesene Gemeinden betreuen;
und die neueste Liturgie-Instruktion aus dem Vatikan hat ja noch einmal verdeutlicht Gottesdienst und Eucharistie kann eben nur ein Priester halten.
Nun hat eine neue Umfrage in der Schweiz ergeben:
Das Kirchenvolk stimmt dort in fast allen Reformfragen gegen die Position der Bischöfe.
Wie lange wird die Kirche noch an diesen alten Strukturen festhalten können?
Meine Frage zunächst an Bischof Gaillot.

GAILLOT:   Es ist wahr, es gibt einen großen Priestermangel.
Ich bedaure, dass in Frankreich sich die Veränderungen in der Kirche
immer über die Priester ergeben und nicht von den Gemeinden aus.
Wenn wir noch so viele Priester wie früher hätten, dann würde sich nichts verändern.
Und natürlich spielt die Entwicklung des Bewusstseins eine große Rolle.
Es gibt diese Schweizer Umfrage, die ist sehr interessant,
weil sie die Denkfreiheit der Christen zeigt. Die Christen denken selber.
Und dieser Bewusstseinswandel ist sicher viel wichtiger
als das Zusammenbrechen der Strukturen.
Ich war eingeladen bei einer Versammlung von Christen zum Thema Verantwortung.
Und in der Diskussion stand einer auf und sagte, ja, aber zu diesem Thema
hat doch der Papst gesagt, dass ... Eine Frau ist aufgestanden und hat gesagt:
»Ich will gerne hören, was die Verantwortlichen der Kirche zu sagen haben.
Das ist klar, das nehme ich zur Kenntnis. Aber entscheiden tue ich.«
Ich habe zwar nicht geklatscht, aber ich war voller Bewunderung.
Und nach der Versammlung habe ich den Priester gefragt: »Wer war diese Frau
mit der intelligenten Antwort?« »Das ist die Untersuchungsrichterin.«
Christen sind heute gebildet, und sie denken selbst.
Jetzt fragen Sie mich, wie lange soll das noch so weitergehen
mit den festgefügten alten Kleriker-Strukturen?
Man hat vielleicht den Eindruck, dass man Zeit verloren hat.
Aber das glaube ich nicht, sondern wir konnten ein neues Bewusstsein entwickeln.
Und es zeigt, dass man die jetzige Situation nicht einfach nur verlängern kann.
Es genügt nicht, dass wir sagen, es fehlen uns Priester, sondern man muss sich fragen,
was für Priester die Kirche heute braucht und was die tun sollen?
Es ist nicht die Frage, dass man Priester hat, sondern was für welche.
Und ich glaube, dass es eine Reifung gibt und dass wir die beide verantworten,
die Priester und die Gemeinde. Wir können die Zukunft nicht voraussagen,
aber wir werden einen Weg finden.

ROSIEN:   Letzte Frage an meine beiden Gesprächspartner:
Wie sähe denn das Idealbild einer lebendigen Kirche heute aus?
Welche Rolle käme den Laien zu?
Können wir Christen auf ihre unterschiedlichen Charismen hin in Ämter einführen?
Können wir sie dazu im Namen der Kirche ermutigen und einladen?
Vielleicht Herr Drewermann, wenn Sie dazu etwas sagen.

DREWERMANN:   Ich glaube mit Bischof Jacques Gaillot, dass die Krise des Priester-nachwuchses eine Chance bedeuten kann.
Die Laien werden mündiger, sie schauen nicht immer wieder auf die viel zu wenigen Priester, und sie entdecken, dass die Vorgaben der katholischen Kirche, um Priester zu werden, menschlich strangulativ sind.
Da ist die Forderung des Zölibats. Hundert Jahre nach Sigmund Freud
kann jeder mit Händen greifen, wie der Ödipuskomplex sich in dieser Form von Kirchen-psychologie etabliert hat und stabilisiert hat.
Wie ist es möglich, dass Männer mit 18 oder spätestens mit 25 Jahren versprechen müssen, ihr ganzes Leben lang niemals eine Frau zu lieben und in alle Zukunft eine Frau,
die sich in ihre Nähe traut, als Gefahr zur Gelegenheit einer schweren Sünde zu betrachten?
Ist es nicht möglich zu denken, Männer hätten ein Recht zu reifen?
Ist es überhaupt möglich, einen Eid zu leisten auf die Bibel, in welcher steht,
Matthäus 5, du sollst nicht schwören?
Kein Mensch kann für den Rest der Zeit sein Leben festlegen.
Ich habe genügend Priester begleitet aus ihrem Amt heraus in eine neue, menschlich erweiterte Form der Liebesfähigkeit und womöglich der Ehe.
Und ich könnte der katholischen Kirche nur wünschen, dass diese Leute weiter
im Dienst wären. Sie sind reifere Menschen geworden, aber keine Gottesverräter.
Die ganze unsägliche Ehemoral, die Dauerprüderie der katholischen Kirche ist das Signum dieses Zustandes. Sie reden von der Liebe, wie Gefangene im Kerker von der Freiheit reden.
Sie haben keine Ahnung, wovon sie wirklich sprechen, weil es verhindert ist, davon zu reden. Und deshalb ist es so schwer, ganz normalen Kontakt zu ganz normalen Menschen zu finden.
Der zweite Punkt: Wir strangulieren das Denken derer, die Priester werden möchten,
durch die unglaubliche Forderung, für wahr zu halten, was das katholische Lehramt als Amt gebietet. Jeder Theologiedozent rund um den Globus hat in den Ostertagen einen heiligen Eid zu schwören, das weiterzugeben und nichts anderes, was der Papst und die Glaubens-kongregation zu sagen vorgibt. Er kann wissen als Wissenschaftler, was immer es sei,
in der Bibel, in der Kirchengeschichte, wie fragwürdig und falsch ganze Teile der katholischen Entwicklung sind, er darf es nicht aussprechen, oder er verliert seinen Lehrstuhl.
Also soll er ihn doch verlieren, was für ein Schaden wäre das?
Aber er müsste dann der katholischen Kirche widersprechen,
 sie hat nicht Recht von Amts wegen. Wahrheit lebt in Erkenntnis, in Neugier, in Reifung,
in Menschlichkeit, aber nicht in Doktrinen und verwaltetem Dogmatismus.
Dieser Gehorsamszwang ist 200 Jahre nach der Aufklärung völlig inakzeptabel
und für suchende, einigermaßen wache junge Männer nicht mehr hinzunehmen.
So kann man nicht wirklich die Sache Jesu weitergeben. Die Kategorie, in der das Neue Testament denkt, ist nicht wesentlich der Priester, sondern der Prophet. Eine Synthese.
So von Gott zu reden, dass es dichterisch bis zur Verdichtung der Existenz wird und therapeutisch gut tut, das ist, was der Mann aus Nazareth wollte.
Wenn Sie das priesterlich nennen möchten, ist das allegorisch vielleicht richtig,
aber es ist nicht zu beamten.
Und dies ist die Tragödie des katholischen Priesteramtes.
Der Protestantismus hat dies seit langem begriffen.
Und deshalb ist die Frage: Wie sieht eine Kirche aus, die sich wirklich von unten her aufbaut? Mein Rezept ist vielleicht nicht für jeden gültig. Aber sehr vereinfacht gesagt, würde es lauten: Schauen Sie nicht länger auf die Priester, werden Sie selber priesterlich.
Schauen Sie nicht länger auf die Kirche, leben Sie selber kirchlich.
Schauen Sie nicht auf das Christentum als Religionsform, werden Sie innerlich religiös.
Wie das aussieht, kann sehr aufregend sein.
In den neuen Bundesländern mögen 80 Prozent der Leute sich Atheisten nennen,
aber sie engagieren sich gegen den Krieg in Bagdad. Sie engagieren sich für die Asylanten.
Sie engagieren sich für die Strafrechtsreform. Sie tun lauter Dinge, mit denen ich mich oft
viel solidarischer fühle als mit beamteten Priestern in der katholischen Kirche.
In diesem Sinne stellt Jesus im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter nicht einen Juden vor, sondern jemanden, den man als orthodoxer Jude hassen müsste, weil er nicht in wirklich richtigem Sinne religiös ist, einen Samaritaner. Aber er ist ein Mensch, und also findet er Gott. Das will Jesus in der Geschichte sagen, überall findet ihr Gott, wo wirkliche Menschen sind.
Da fragte vor einer Weile eine Frau aus dem Osten, wie soll ich denn mein Kind religiös erziehen; wenn ich selber gar nicht glaube?
Martin Luther konnte einmal sagen, eine Frau, die die Windeln ihres Kindes wäscht, betet.
Ich füge hinzu, ob sie das weiß oder nicht.
Diese Frau erzählte mir, wie sie ihr dreijähriges Kind abends ins Bett bringt.
Sie setzt sich zu ihm, geht den Tag noch mal durch, liest ihm etwas vor und sagt ihm dann,
hab keine Angst, ich bin ja bei dir.
Diese Frau wusste nicht, dass sie genau die Worte spricht, die Gott dem Moses am Sinai sagt: Du willst wissen, wie ich heiße? Um eine Formel daraus zu machen und eine Religion daraus
zu entwickeln? Du wirst nie wissen, wer ich bin, Moses. Ein Einziges genügt dir.
Es wird in deinem Leben keine Situation geben, wo du mich nicht finden wirst.
Ich werde da sein, als der ich dann sein werde.
Diese Frau, die eben noch sagt, sie glaubt gar nicht, nur um die Angst ihres Kindes in der Nacht zu beruhigen, redet die Sprache Gottes. Und sie verspricht etwas, das sie gar nicht versprechen kann. Noch heute Nacht könnte sie selber sterben. Aber um die Angst eines Kindes von der Stirn zu streicheln, gebraucht sie die Sprache des Gottes am Sinai.
Sie vermittelt Gott mit ihrer Liebe, mit ihrem nicht zu rechtfertigenden Vertrauen.
Sie baut eine Brücke über die Unendlichkeit zwischen Diesseits und jenseits.
Sie ist priesterlich, ohne es zu wissen.
Ich wüsste nichts Besseres, was man empfehlen sollte.
Hieß es nicht mal, es brauchte die linke Hand nicht zu wissen, was die rechte tut?
Vielleicht sind die Dinge, die menschlich stimmen, ganz nahe bei Gott, und alles,
was wir von Gott zu wissen glauben, trennt und hindert.
Wir brauchen keine Beamten, wir brauchen Menschen.

ROSIEN:   Dieselbe Frage an Sie, Herr Bischof.

GAILLOT:   Ich persönlich mache mir keine Sorge über die Zukunft der katholischen Kirche. Lassen wir doch einfach die Vielfalt existieren.
Es gibt eine Fülle von Erfahrungen, von Haltungen und von Handlungsformen.
Wir starten ja nicht bei null, und wir sollten diese Vielfalt
nicht auf ein einziges Modell reduzieren.
Die verschiedenen Formen sind ein Reichtum, wenn sie sich gegenseitig anerkennen.
Und die Veränderlichkeit heißt nicht, dass alles auseinander fällt.
Und Quellen erschließen ist besser als Strukturen verwalten.
Lassen wir die Zukunft offen. Es gibt Platz für die Kreativität und für den Mut.
Wir sollten die Initiativen unterstützen und ermutigen.
Das größte Risiko ist, wenn man keines eingeht.
Wir müssen neue, beweglichere Dienste schaffen, die sich anpassen, provisorische,
entweder spezialisiert oder allgemein, die man immer wieder neu orientieren kann,
dass man sich nicht zu stark auf die Macht verkrampft.
Die Wahl muss offen bleiben, ohne die verschiedenen Lebensformen zu unterscheiden,
die Geschlechter und das Alter, sondern man muss eine Fülle von Verantwortlichkeiten
möglich machen.
Und zum Schluss möchte ich sagen, es ist wichtig, dass wir in der Kirche von denen ausgehen, die die Gesellschaft wegschmeißt. Dann irrt man sich nicht.
Ich weiß nicht, ob ich die Veränderung in der Kirche noch sehe, die ich gerne hätte.
Das Wichtigste ist, dass die Hoffnung in der Kirche erhalten bleibt und dass das,
was heute besteht, mich zum Dank an Gott animiert.
Und mir gefällt der Augenblick, den ich in der katholischen Kirche lebe.
Die Kirche ist meine Familie, und schließlich sind zweitausend Jahre Christentum nicht viel. Und ich glaube, wir sind noch am Beginn des Evangeliums. Amen.

DREWERMANN:   Ich stimme Bischof Gaillot sehr zu.
Wir stehen im gewissen Sinn erst noch im Schatten der Urkirche.
Die Dimension der Hoffnung, von welcher Jacques Gaillot spricht,
entsteht für mich freilich nicht aus Kirchenstrukturen. Das muss ich ehrlich zugeben.
Ich gewinne Hoffnung in jedem Gespräch mit Menschen, einfach wenn ich sehe,
dass viele so verschüttet leben wie eine Wüstenblume nach vielen Jahren Trockenheit.
Aber dann kann es sein unter all dem Staub und dem Sand, dass wenige Tage in der beginnenden Regenzeit sie öffnen zu einer nie geahnten Schönheit.
Menschen können die Chance, die sie haben, wenn sie nur einem bisschen Güte begegnen,
so unglaublich intensiv ergreifen.
Das lässt mich hoffen auf die Ressourcen in der Seele der Menschen,
und die dürfen wir nicht verschütten, auch nicht im Namen irgendeiner Kirche.
Aus denen heraus muss jede Kirche sich selber regenerieren.
Schauen Sie nicht länger auf die Priester,
werden Sie selber priesterlich.
Schauen Sie nicht länger auf die Kirche,
leben Sie selber kirchlich!




EUGEN DREWERMANN
ist katholischer Priester. Er hat dieses Amt 25 Jahre lang ausgeübt.
Vor 15 Jahren schrieb er den heute als Klassiker geltenden Report über sich und seine Amtsbrüder «Kleriker». Das 750-Seiten-Buch ist eine tiefenpsychologische Durcharbeitung
des katholischen Priesterstandes. 
Für die Kirchenoberen war das damals viel zu deutlich und zu schmerzhaft.
Vor allem der Vatikan sah sich getroffen. Nach einem schlimmen Stück von Inquisition
wurde Drewermann Anfang der 90er Jahre von seinem Priesteramt suspendiert.
Auch an der Universität Paderborn durfte der habilitierte Theologe und gelernte Psycho-analytiker nicht mehr lehren. Seither schreibt er aufregende Bücher, hält Vorträge
und ist als Psychotherapeut tätig.
Mit seinen über siebzig Buchtiteln dürfte Eugen Drewermann
den Absatzzahlen nach ein mehrfaches Millionen-Publikum ansprechen.

JACQUES GAILLOT
war bis 1995 Bischof der nordfranzösischen Diözese Evreux.
Er hat seine Bischofskollegen damals durch eine sehr unkonventionelle Amtsführung
schwer verstört und sie drängten den Vatikan, ihn aus dem Amt zu entfernen.
Der Papst hat ihm dann eine Diözese überlassen, von der er meinte, da wird er wohl nicht viel Schaden anrichten können. Das war die längst verschollene Wüsten-Diözese Partenia
in der Sahara. Dass Bischof Gaillot in den neun Jahren seither aus diesem Namen Partenia ein blühendes Internet-Bistum (
http://www.partenia.org ) gemacht hat,
das haben weder der Papst noch seine Bischofskollegen geahnt.
Gaillot lebt heute zumeist in Paris, er teilt sein Leben besonders mit den illegal in der Stadt hausenden Menschen, und ab und an schreibt er spannende Bücher dazu.


Aus

PUBLIK-Forum
Zeitschrift für kritische Christen



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frei + christlich

Man muss sich nur im Klaren sein,
dass man über dies Thema nicht streiten kann,
sondern man muss lernen, Wesensunterschiede zu unterscheiden.
Alle Kultformen haben ihre Berechtigung und ihre Bedeutung;
und man kann daher jede, in der ihr gemäßen Form
und dem ihr zukommenden Rahmen,
durchaus anerkennen.     
Fred Poeppig


Jeder Mensch ..werde.. ein Priester!